Gleisdreieck: verklärte Vergangenheit,
versaute
Gegenwart, vage Zukunft
Der Tagesspiegel (19.05.2001)
http://www.tagesspiegel.de/berlin/archiv/19.05.2001/ak-be-st-4412001.html
Als Unbefugter, dem im Sinne des Anschlags der Zutritt zum
Gelände am Gleisdreieck untersagt ist, trat ich also unbefugt zu. Ich hatte
etwas bisher Versäumtes nachzuholen. Es kann einer noch so viel über Berlin
geschrieben haben, hat er sich aber nie am Gleisdreieck versucht, dann bleibt
all sein Geschreibsel Stückwerk. Am Gleisdreieck kommt keiner vorbei. Dort
geht's drunter und drüber. Hier kreuzen übereinander drei U-Bahnen, die auf
beträchtlicher Strecke Hochbahnen sind. Eigentlich sind's nur zweieinhalb
Linien; denn die heutige Linie 1 streckt sich zwischen Warschauer Straße und
Krumme Lanke, die Linie 15 zwischen Warschauer und Uhlandstraße. Und dann gibt
es zuweilen nachts oder zu Großveranstaltungen die Linie 12, die auch das
Gleisdreieck passiert, aber eben auf einem Teil der früheren Linie 1, also auf
einem Teil der jetzigen Linie 2 zwischen Pankow und Ruhleben. Verstanden? Ich
auch nicht. Und lassen Sie sich von keinem Pufferküsser einreden, das sei doch
alles ganz einfach. Um Berlin zu kapieren, bedarf es etlicher Jahre und
mindestens der Mittleren Reife. Und einiger Erfahrungen mit der U-Bahn. Dazu
gehört das Gleisdreieck. Es hat schon so manchen zu Versen oder Feuilletons
angereizt. Einer - er hieß Hans Kern - ließ es wetterleuchten rot und grün und
weiß: / Vor meinen Augen tanzt ein Flammenkreis, / Die Schienenstränge glimmen
angefacht / Und schießen wie Raketen in die Nacht. Und Walter Mehring schrieb
ein Gedicht Achtung Gleisdreieck. Und Günter Grass auch eins: Gleisdreieck, als
auch auf diesem Bahnhof noch vorm Mauerbau im Westsektor warnend ausgerufen
wurde, dass es der letzte Bahnhof im Westsektor sei. Wie gesagt: Am Gleisdreieck
kam keiner vorbei. Auch Joseph Roth nicht. Er legte in der Frankfurter Zeitung
1924 ein geradezu emphatisches Bekenntnis zum Gleisdreieck ab, eine Lobpreisung
der eisernen Landschaft. Er muss, als er das aufschrieb, in recht angefachter
Laune gewesen sein, so lodert es. Aber es lodert ungemein schön.
Nun ist
von alledem, von Kern über Mehring und Roth zu Grass, reineweg nischt mehr da.
Es geht recht still zu auf dem Gleisdreieck. Es fehlen ja auch seit Kriegsende
die Kernschen Schienenstränge in einem Flammenkreis, die vom Potsdamer Bahnhof
und Anhalter südwärts in die Nacht schossen wie Raketen, was Roth in einem
Gottesdienst der Maschinen gipfeln ließ. Künftige Gleisstränge zum
neuhauptstädtischen Lehrter Bahnhof werden seitlich von unserem Gleisdreieck vom
Tunnelmund verschluckt. Das sollen Künftige besingen. Sie werden gemessen am
Gesang eines Roth, den er in verheißungsvolles Moll übergehen ließ: Schüchtern
und verstaubt werden die zukünftigen Gräser zwischen metallenen Schwellen
blühen. Die "Landschaft" bekommt eine eiserne Maske.
Wo nach dem Krieg
über tote Gleisstränge Gras gewachsen war, Pappeln und Birken wurzelten, ja
Füchse schnürten (ich sah sie selbst!) und Karnickel hoppelten, wo Mutter Grün
sich der Großstadtkinder annahm, da wurde geholzt, gerodet, gegraben. Dem Neuen
Berlin entgegen. Und es sieht mir nicht so aus, als würde nach der
generalstabsmäßigen Verwüstung darüber wieder Gras wachsen, Bäume wurzeln und
Sträucher, als bekäme die Stadt hier frische Luft.
Einstweilen bewispern
im Dreibund Pappeln, Birken und Ahorn am Gleisdreieck ihre unsichere Lage. Sie
bewohnen genügsam unsicheres Terrain: die schüttere Erdschicht über brüchigen
Bögen. In denen haben sich Autoreparateure, diese Messdiener heutiger
Götzendienste, eingerichtet. In andere Bögen wurde Unrat, Abfall des Überflusses
geworfen: abgefahrene Autoreifen. Am Gleisdreieck kreuzen sich die drei
Lebenslinien: verklärte Vergangenheit, versaute Gegenwart und vage Zukunft.